Lerntherapie Martina Hegmann |
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Den unten stehenden Artikel habe ich im Rahmen der "Blogparade" der Lerntherapeutin Sabine Landua geschrieben.
Das Thema der Blogparade ist"Lernabenteuer - was ich außerhalb der Schule gelernt habe"Ich danke Sabine Landua für die tolle Idee: Gerade wir Lerntherapeutinnen müssen uns immer mal wieder verdeutlichen, dass das Lernen außerhalb der Schule extrem wichtig und ergiebig ist. Und in diesem Bereich sind unsere Therapiekinder in aller Regel nicht beeinträchtigt! Das Leben ist eine riesige Lernchance, und wir dürfen Zutrauen haben und dazu beitragen, dass unsere Therapiekinder diese für sich nutzen. Hier kommt man zu Sabines Blogparade: sabine-landua.de/blogparade-lernabenteuer/ Vom Reden und Reisen - ein Lernerlebnis"Sprechen Sie jede Sprache fließend in 5 Minuten": Das klingt nach einer tollen Werbung, oder? Aber unrealistisch! So habe ich auch gedacht, bis ich auf einer Reise einen jungen Spanier traf, der mir zeigte, dass so etwas Ähnliches tatsächlich möglich ist. Vor einigen Jahren gönnte ich mir ein Jahr Auszeit für eine lange Rucksackreise. Per Bus und Bahn tourte ich durch Osteuropa und Asien. Auch Russland stand auf dem Plan. Es war lange vor Corona und Ukrainekrise, eine Zeit voller Hoffnung, in der wir dachten, der Kalte Krieg ist beendet, jetzt wächst eine friedlichere Welt zusammen! Gemeinsam mit einem deutschen Reisekameraden hatte ich einen Sprachkurs in St. Petersburg absolviert, nun waren wir in Moskau in einem Hostel eingemietet. Es war in einem alten sozialistischen Plattenbau untergebracht und von eher einfachem Standard. Ähnlich wie in einer Jugendherberge, mietet man im Hostel ein Bett im Mehrbettzimmer und nutzt Toilette, Bad und oft auch eine Küche gemeinsam. Das ist billig und gesellig, denn man lernt viele verschiedene Leute kennen. Martin, mein Reisekamerad, und ich teilten unser Zimmer mit Franco, einem jungen Spanier. Franco erzählte uns auf englisch, dass er in seiner Heimat als Briefzusteller tätig sei. Nach Russland sei er gekommen wegen der guten naturwissenschaftlichen Fachbücher, die man hier kaufen könne. Das schien mir eine originelle und etwas wunderliche Begründung für eine so weite Reise, und wunderlich ging es weiter: Am Abend tauchte Franco mit mehreren dicken Büchern im Zimmer auf, verzog sich auf sein Bett und rüstete sich für einen Leseabend. Neugierig schauten Martin und ich die Bücher näher an: Es waren Mathematik-Lehrbücher, offensichtlich auf Universitätsniveau. Die Schrift war natürlich kyrillisch. Da Franco uns erzählt hatte, er könne kein Russisch, fragte ich ihn, ob er das lesen könne. Die Antwort: Die Texte brauche er nicht, ihm genügen die Zeichnungen und Formeln, und die seien international immer gleich. So lag Franco auf seinem Bett, vertieft ins russische Mathebuch, und in mir kam der Verdacht auf, ich könne es nicht nur mit einem Nerd, sondern auch mit einem Genie zu tun haben. Am nächsten Tag bewies Franco, dass er vielleicht ein Nerd, möglicherweise auch ein Genie, aber auf jeden Fall ein Held der internationalen Kommunikation war: Abends verabschiedete Martin sich, um sich mit einer russischen Freundin zu treffen. Franco wollte nach unten in die Hotelbar, und da ich den Abend nicht allein verbringen wollte, kam ich gerne mit. Hier war Franco mit einigen türkischen Männern verabredet, die er vom Abend vorher kannte. Meine ersten Bedenken (allein unter so vielen Männern!?) waren schnell zerstreut, als ich mit einem herzlichen Mix aus Spanisch und Türkisch (was ich leider auch nicht spreche) am Tisch willkommen geheißen wurde. Es war eine nette Runde: Franco der Spanier, Kamal, ca 50 Jahre, und sein Sohn Malik, Sinan und Erhan, beide um die 40, die wohl Freunde der beiden waren, und ich. Alle schienen freundlich und aufgeschlossen, und ich brannte darauf, zu erfahren, was die Männer hierher führte. Es gab nur ein Hindernis: Die Vier sprachen nur Türkisch, das weder Franco noch ich beherrschten. Hier möchte ich ergänzen: Smartphones und Übersetzungs-Apps waren noch weitgehend unbekannt. Wer sich im Ausland verständigen wollte, lernte ein paar Worte auswendig oder trug ein "Phrasenbuch" mit sich herum. Darin standen die "geläufigsten" Sätze in der Zielsprache, auf die man dann zeigen konnte. Aber selbst, wenn ich ein solches Buch gehabt hätte: Hier war Türkisch gefragt, darauf hätte mich auch mein russisches Phrasenbuch nicht vorbereitet. Ich versuchte trotzdem, mein frisch erlerntes Russisch anzubringen, aber ohne Erfolg. Mit ein paar englischen Sätzen an Malik, den jüngsten der Runde, kam ich auch nicht weiter. Während ich noch mit Malik radebrechte, fiel mir auf, dass Franco mit den anderen Männern bereits eine angeregte Unterhaltung führte. Ich wurde still, hörte zu und lernte die Lektion, die mir auf meiner weiteren Reise viele Hindernisse aus dem Weg räumen sollte: Franco nutzte eine Mischung aus Gesten, Blicken, kleinen schauspielerischen Showeinlagen, bekannten Namen und Fremdworten, von denen sich viele als international erwiesen. So fragte er Sinan und Erhan, ob sie Familie hätten: Ein Fingerzeig auf den Ringfinger, fragender Blick: verheiratet? Dann ein angedeutetes Baby im Arm, Schaukelbewegung: Kinder? Ja? Eine Handbewegung, die Kinder in unterschiedlicher Größe andeutet, mit den Fingern gedeutet: Eins? Zwei? Drei? Zwei Kinder hatte Erhan, beides Jungen (mit angedeutetem, aber durchaus diskretem Zeigen auf die männliche Mitte deutlich gemacht). So ging es weiter: Nach den Berufen und den Reisen wurde gefragt. "Professora", so lernte ich, eignet sich international, um wenigstens andeutungsweise die "Lehrerin" verständlich zu machen, "Post" ist ein ähnlich internationales Wort, das Franco half, seinen Beruf zu erklären. Für die "Reise": Ein gestisch angedeuteter Rucksack, eine Hand, die als Flugzeug abhebt, ein lautmalerisch dargestellter Zug. Die türkischen Männer waren keine Reisenden, sondern arbeiteten hier. Sie zeigten auf Flaschen, Hände und Lippen stellten das Auffüllen dar, gedachte Maschinen verschlossen die Flaschen, Kartons wurden pantomimisch verladen: Sie arbeiteten in einer Getränkeabfüllung. Mit Francos Beispiel gelangen mir die meisten Fragen und Antworten. Wusste ich mit keinen Rat, so bat ich ihn um "Übersetzung": Die Frage, aus welchem Land ich komme, konnte ich mit "Alemania" gut beantworten. Aber mit dem Ort (Köln) kam ich nicht weiter. Kein Problem für Franco: "Özalan, Özalan, Alemania! " Der Fußballspieler, damals zum FC Köln gehörend, brachte unsere türkischen Freunde auf die richtige Spur. So verlief der Abend lustig und ohne große Sprachbarrieren, und wir trennten uns, gefühlt, als Freunde. Malik, mit dem ich mich am meisten unterhalten hatte, schenkte mir seine Tesbih, ein Armband mit türkischen Gebetsperlen, das mir auf der weiteren Reise Glück bringen sollte. Das geschah auch, die Reise stand unter einem guten Stern. Die Tesbih begleitet mich bis heute und erinnert mich an diese wichtige Lektion: Offene Gemüter, Interesse für das Gegenüber, Geduld und viel Fantasie, gepaart mit einer Prise Humor, können Kommunikation auch ohne gemeinsame Sprache möglich machen. Sprachen lernen, auch Wortschatzübungen und Grammatik, bleibt trotzdem wichtig (schließlich bin ich Lehrerin!). Aber alle bremsenden Unsicherheiten, wie: "Spreche ich das auch richtig aus? Habe ich jetzt aus Versehen Perfekt statt Präteritum benutzt?" sollten wir vergessen. Drauflos plaudern mit dem Wortschatz den man hat, improvisieren, wo es geht, ein Bild zeigen, eine Skizze machen, das Schauspieltalent unterstützend nutzen - das ist effektiver und macht unglaublich viel Spaß! Ich bin froh, dass ich das im ersten Teil meiner Reise lernen dürfte. Immer wieder traf ich Menschen, mit denen mich keine gemeinsame Sprache verband - außer Francos "International", der Sprache, mit der man wirklich überall zurecht kommt. |